 Aber im Sommer 1977, als ich dreizehn Jahre alt war, füllte ein monströser, geifernder Geist plötzlich dieses Vakuum. Im Juli hatte ich auf einer Baustelle vor Ort einen Job bekommen. Einer der Arbeiter war
ein dürrer, leichenblasser junger Typ, der, wie sich herausstellte, für die Ausbildung meines musikalischen Horizonts eine wichtige Rolle spielen sollte. Hubert war neunzehn und stammte aus
einem nahe gelegenen Arbeitervorort, den er gelegentlich als "Sallyfuckinnoggin" bezeichnete. Seine Sprache und auch seine Haut waren auffallend scheusslich. Huberts Leben bestand aus zwei
Dingen. Das war an erster Stelle Pornographie. An zweiter Stelle rangierte der Punkrock. Den liebte er. Er verehrte die Punkmusik geradezu und er erzählte mir stundenlang davon. So erfuhr ich
von einem Etablissement in der Stadt, das Moran's Hotel genannt wurde, in dem fast jede Nacht Punkrock Konzerte stattfanden. Es drehe sich alles darum, gegen die ‚Gesellschaft' Position zu
beziehen, erklärte er, man müsse "das System zum Einstürzen bringen". Hubert war auch ‚gegen die Gesellschaft' versicherte er mir glühend. Jeden Tag traf sich im Keller des
Moran's Hotels eine Unmenge von Leuten, die auch ‚gegen die Gesellschaft' waren und sie hatten sich als Beweis dafür Sicherheitsnadeln durch ihre Ohren, Wangen und Nasen gesteckt. Die
Bands, die im Moran's Hotel spielten waren ausnahmslos alle auch gegen die ‚Gesellschaft'. Aber die härtesten von allen, so vertraute mir Hubert an, die abgefuckteste Gruppe verlauster,
nichtsnutziger, fieser Penner, die sich jemals in einen Marshall Verstärker eingestöpselt, die Lautstärke hochgejagt und eine Dreiakkordenummer hingelegt hatte, sei die seit einem Jahr
bestehende Band The Boomtown Rats. Sie sind "abgefuckter Abschaum" hätte Hubert auf liebevolle Weise gesagt, so als ob dieses Abgefucktsein etwas wäre, worauf man ausserordentlich
stolz sein müsste. "Die sind so versaut, die waschen sich noch nicht einmal" liess er mich mit einem teuflisch freudestrahlenden Grinsen wissen, auch wenn (vielleicht glücklicherweise)
nicht ganz klar wurde woher er dieses Wissen eigentlich bezog.
Ich wäre natürlich liebend gerne auch ins Moran's Hotel gegangen, aber ich konnte nicht, da ich minderjährig war. Auf
jeden Fall war ich rasend neugierig auf diese Horde lasterhafter und verkommener Subjekte. Ich wollte einfach wissen, wie diese Boomtown Rats so waren. Den einzigen echten Popstar, den ich jemals
gesehen hatte, war Gary Glitter, der in einem Fernsehstudio von RTE "I love you Love" zum Besten gegeben hatte. Ich fragte mich, ob diese Boomtown Rats genauso unterhaltsam wie Gary sein
würden. Eines Tages verkündete Hubert mir, dass ich demnächst Gelegenheit hätte, das herauszufinden. Die Boomtown Rats sollten auf dem Fussballfeld von Dalymount Park
demnächst im Rahmen eines grossen Open-Air-Konzertes spielen. Hubert hatte mir eine Eintrittskarte geschenkt. An jenem Augustnachmittag ging ich also - meiner Mutter hatte ich eine
Lüge aufgetischt, hatte ihr, glaube ich, erzählt ich sei auf einem Pfadfinderausflug - mit Hubert und seiner geliebten Mona zu dem Konzert. Mona war ein sehr gesund aussehendes
Mädchen mit den Armen eines Dockarbeiters und einem verwirrenden, mit Blasphemien und Flüchen gespickten, Vokabular. Alles was man von ihrer Kleidung sehen konnte bestand aus Leder, eine
Tatsache, die mich sehr fesselte, da neben meinen Schuhen das einzige was ich aus Leder besass, ein Skapular war. Es war ein sehr heisser Tag und das Stadion war brechend voll. Thin Lizzy
und Fairport Convention waren die Hauptgruppen, aber Hubert hatte mir diskret zu verstehen gegeben, dass sie nicht in ausreichendem Masse ‚gegen die Gesellschaft' waren. So war ich also
wie mein Mentor und Mona nur an den Boomtown Rats interessiert.
 Als ihr Auftritt über die Lautsprecheranlage angekündigt wurde, wurde Hubert so euphorisch, dass ich dachte er würde wie
die Jungfrau Maria gleich in den Himmel hinauffahren. Ich habe nie wieder einen so unglaublich aufregenden Moment erlebt, wie den, als die Bommtown Rats auf die Bühne schlenderten, die
Instrumente aufnahmen und zu spielen begannen. Ich hatte das Gefühl als würde sich in meinen Nervenenden ein Gewitter entzünden. Das erste Mal, wenn man das Aufjaulen einer E-Gitarre,
das Wummern des Basses oder das Getöse des Schlagzeugs hört, vergisst man nicht. Der Lead-Sänger Bob Geldof sah wie ein abgemagerter, schlabbernder Beelzebub aus, wie er über die
Bühne sprang und torkelte und dabei die ungewöhnlichen Songtexte ins Mikro spuckte. Der Keyboard-Spieler Johnny ‚Fingers' Moylett trug auf der Bühne einen Schlafanzug, ein
höchst unerhörtes und mehr als anarchistisches Outfit. Der Bassist Pete Briquette taumelte auf und ab und grinste verrückt, so als hätte er mit einem besonders schweren Verlauf
der Bovinen Spongiformen Encephalopathie zu kämpfen. Und wenn die Gitarristen Gerry Cott, Gary Roberts und der Schlagzeuger Simon Crowe noch relativ normal aussahen, hättest du trotzdem
nicht unerhebliche Vorbehalte, wenn sie als Babysitter deiner Schwester auftreten würden. Sie spielten ihre Musik wild und schnell. Unglaublich LAUT mit einer merkwürdigen Mischung aus
Leidenschaft, Hingabe und völliger Verachtung für ihr Publikum. Ich liebte sie, ich hatte nie zuvor in meinem Leben so etwas gehört und ich stand wie angewurzelt da. Als sie mit ihrer
ersten Single ‚Looking after Number One' loslegten, bekam ich eine Gänsehaut am ganzen Körper.
Don't give me love thy neighbour
Don't give me charity
Don't give me peace and love or the good lord above!
You're always gettin' in my way with your stupid ideas
I don't want to be like you
I don't want to be like you
I don't want to be like you
I'm gonna be like ME!
Das war von nun an meine Musik. Ich wankte mit klopfendem Herzen und hämmernden Schläfen nach Hause in dieser Nacht. Meine Mutter hatte natürlich auf mich gewartet und zeterte eine
Ewigkeit mit mir herum, was meine Kopfschmerzen nicht gerade linderte. Aber ich fühlte mich durch die Musik wirklich gestärkt. Es klingt naiv, wenn ich das heute so sage, ich weiss,
aber es war tatsächlich so. Ich fühlte mich, als wäre ich Zeuge irgendeiner Offenbarung geworden. Plötzlich schien das Leben viel einfacher zu sein. Jemandem, der sich in deine
Belange einmischte musstest du nur sagen, dass er sich gefälligst verpissen soll und du kein Interesse hättest so wie er zu werden und dass du einfach du selbst sein willst. Ich versuchte
es mit meiner Mutter und sie sah, um es milde auszudrücken, die Dinge nicht so wie ich. Aber es war der Sommer 1977 und alles schien so bestechend einfach zu sein.

Als im September die Schule wieder begann, erzählte ich meinen Freunden alles über die Boomtown Rats. Meine Kumpels und ich hatten das Gefühl, dass es etwas gab, was uns auf
merkwürdige Art und Weise miteinander verband. Ich glaube, wir dachten, dass wir interessantere und schmerzvollere Erfahrungen gemacht hätten als andere, obwohl wir natürlich, da wir
Jungs im Teenageralter waren nicht viel über derlei Dinge redeten. Es stellte sich heraus, dass mein Schulfreund Conor auch schon von den Boomtown Rats gehört hatte. Er hatte einen Artikel
in der Hot Press Zeitschrift gelesen, in dem stand, dass Bob Geldof auf unsere Schule gegangen war. Wenn ich bislang nur äusserst interessiert war an den Rats, jetzt war mein Enthusiasmus
kaum noch zu bremsen. Diese leprösen unkonventionellen Wichser hatten tatsächlich meine Schule besucht. Blackrock College, auf diese von Priestern geführte Schule, die dafür
bekannt war unterwürfige Lohnsklaven am laufenden Band zu produzieren, waren auch die Boomtown Rats gegangen! Wie konnte das möglich sein? Es gab offensichtlich noch Hoffnung für uns
alle. An einem Abend in diesem Herbst sollten Bob Geldof und die Rats in der "Late Late Show" im Fernsehen zu sehen sein. Ich schwindelte meine Mutter wieder an, um weggehen zu können und lief
zu meinem Freund, um die Sendung anzuschauen. Die Atmosphäre im Wohnzimmer meines Freundes war äusserst aufgeladen, während wir die Radler-Flaschen öffneten, die einzige
spucketriefende Zigarette von einem zum anderen reichten und auf die Ankunft unseres Messias warteten.
Bob erschien wie eine verwahrloste Schnapsnase im Teufelsschritt daherkommend auf dem Bildschirm
und liess feixend das Interview über sich ergehen, wobei er seine Antworten in einem verdrucksten Southside-Dialekt lieferte. Viele Dinge an Irland möge er nicht, erzählte er. Er
verabscheue die katholische Kirche, er hasse die Priester, die in im Blackrock College unterrichtet hätten und er möge seinen Vater nicht. Zum Rock'n Roll sei er gekommen, um saufen und
rumhängen zu können. Fast alles, was er sagte löste Entrüstung und missbilligendes Zischen beim Publikum aus, während meine Freunde und ich wild applaudierten. Als das
Interview vorbei war, kam der Rest der Band herangekrochen, so als ob sie gerade mit einem Ruck wach geworden wären und legten donnernd ihren Song "Mary of the fourth form" hin, ein Lied
über die Verführung eines Lehrers durch eine Schülerin. Die Late Late Show war im Verlauf ihrer langen und bewegten Geschichte schon zum Schauplatz mancher aufregender
Ereignisse geworden, aber Jugendliche, die im Schlafanzug Klavier spielten hatte es bislang noch nicht gegeben. Auf dem Höhepunkt des Songs, im Getöse des Schlagzeugs, während die
Wände den Lärm zurückwarfen konnte man das Publikum im Studio sehen, wie es betäubt und völlig gelähmt dasass. "Das war klasse, Bob" sagte der nervös gewordene
Moderator und lächelte. Geldof drehte sich finster blickend um, wischte sich die Spucke mit dem Handrücken vom Mund und erwiderte bissig "Wenn es dir so gut gefallen hat, kauf dir doch die
Platte".
Jetzt war dieser Typ verdammt noch mal, auch noch frech wie Rotz zu Gay Byrne. Das war neu und gefährlich. Das war sozusagen eine Revolution. Dies war im Irland der späten
siebziger Jahre ein in dieser Form völlig unerwartetes Gespräch. Es war das Jahrzehnt, als eine Million Menschen - nahezu ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Landes - an einer
Messe des Papstes im Phoenix Park in Dublin teilgenommen hatten. Es war viele Jahre vor Mary Robinson oder der Scheidungsdebatte, oder der Einführung von Rechten für Homosexuelle in Irland.
Es war in den siebziger Jahren in diesem Land noch nicht mal möglich ein Kondom legal zu kaufen und völlig undenkbar, dass man im Fernsehen so locker übers Saufen, Rumhängen, den
Hass auf Priester und die Abneigung gegen den Vater plauderte. Auch wenn ich meinen Vater sehr mochte, gefiel mir Geldofs scharfe Mischung aus Schnoddrigkeit, schlecht ausgewählten Hosen und
Respektlosigkeit gegenüber den Autoritäten sehr. Nach einer gewissen Zeit konnte ich gar nicht genug davon bekommen. Kurz nach der Late Late Show konnte mein Freund Conor eine
Aufnahme der ersten Platte der Boomtown Rats ergattern und er überspielte sie für mich. Es war eigentlich kein richtiger Punk, sondern eher eine Art aufgemöbelter, sehr aggressiv
gespielter Rhythm and Blues. Aber es gab ein paar fantastische Songs auf der Platte. "Never bite the hand that feeds" und "Neon Heart" zum Beispiel. Die Musik war roh,
überfliessend vor Temperament und einer frischen Energie, die aus dem tiefsten Innern zu kommen schien. Dennoch waren es andere Aspekte, die mich besonders einnahmen. Die Songs handelten
von unterschiedlichen Persönlichkeiten und man hatte das Gefühl, dass sie sich auf Leute aus dem wirklichen Leben bezogen. Ausserdem hatte die Sprache so eine verblüffende
Leichtigkeit, eine kühne, sehr reduzierte Form des Geschichtenerzählens.
Sooner or later, the dawn came I reaking
The joint was jumping and the walls were shaking
When Joey sneaked in the back door way
Pretending he was with the band he never used to pay
He was never a great draw for pulling the chicks
He'd just lie against the wall like he was holding up the bricks
Auf dieser ersten Platte der Boomtown Rats war jedoch auch eine langsame Ballade mit Klavier mit dem Titel "I can make it if you can". Es war ein sanftes Lied, voller Verletzlichkeit und
Sehnsucht. Ich hatte die Kassette neben meinem Bett liegen und jeden Morgen, wenn ich aufwachte hörte ich "I can make it if you can". Für mich war es die Stimme eines
Überlebenden, einer der den Schmerz kannte. Ich hatte das Gefühl, dass er für mich oder Leute wie mich sang und er schien mir glaubwürdig. Ich hörte die Kassette immer
wieder, bis sie ausgeleiert war und nicht mehr abgespielt werden konnte. Und es gab viele Tage in jener Zeit - ich scheue mich nicht, das zu sagen - als mir dieses Lied half, aufzustehen. I can make
it if you can. Ich hatte grosse Angst in dieser Zeit, die sich wie eine Faust in meinem Inneren bedrohlich zusammenballte. Mein Leben erschien mir manchmal bedeutungslos, ich konnte mir nur
schwer irgendeine Zukunft vorstellen. Es ist schrecklich, wenn man in diesem jungen Alter so hoffnungslos ist, aber es war tatsächlich so und deshalb muss ich es auch offen erzählen. Keiner
der Lehrer, kein Priester hat je einen Finger gerührt, um meiner Familie zu helfen. Es gab drei Dinge und nur diese drei Dinge, die mich diese Jahre durchstehen liessen. Das war die Liebe
meines Vaters, die er mir kontinuierlich und auf uneigennützige Weise entgegen brachte. An zweiter Stelle stand die Unterstützung meines Bruders und meiner Schwestern sowie meiner Freunde.
Und drittens gab es Bob Geldof.
 Ich hörte ihm zu wie er "I can make it if you can" sang und ich glaubte daran. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich es so wie Bob Geldof auch
schaffen könnte. Mir ist klar, dass ich völlig naiv war, so zu denken aber heute bin ich dankbar für diese jugendliche Naivität. Ich fühlte mich mit Bob Geldof verbunden. Er
wurde zum Paradigma des Überlebens, der Härte und des Mutes. Er würde sich nicht unterkriegen lassen, das fühlte ich und wenn ich mir das vor Augen führte, konnte mir das
auch nicht passieren. Mit der Zeit dachte ich immer mehr über Bob Geldof und seine Band nach. Es bereitete mir Freude alles Mögliche über die Rats zu erfahren. Ich kaufte alle ihre
Platten - "She's so modern", "Like Clockwork" und das grossartige Album "A Tonic for the troops". Ich war wirklich davon überzeugt, dass ihr Erfolg etwas mit mir zu tun
hatte, es schien mir als sei ich Teil davon. Auf unverbrüchliche Weise war ich mit ihnen verbunden, auf eine Art und Weise, die niemand sonst verstehen konnte. Ich hatte das Gefühl, sie
singen für mich und die Leute, die ich kenne. Die Rats waren meine Freunde, obwohl ich sie nie getroffen hatte. Im November 1978 waren die Boomtown Rats auf jeden Fall die erste irische Band
dieser Ära, die an die Spitze der britischen Charts gelangten. In Top of the Pops der Woche, als Bob Geldof den wunderbaren Song "Rat Trap" herunterrasselte, zerriss er ein Plakat
von Olivia Newton John und John Travolta, deren affektierte Single "Summer Nights" die Rats gerade vom ersten Platz verdrängt hatten. In der Schule waren meine Freunde und ich sprachlos
vor Stolz. Conor schnitt ein Foto von Geldof aus der Hot Press aus und hängte es in der Ruhmeshalle auf, wo die gerahmten Bilder aller berühmten Leute hingen, die diese Schule besucht
hatten. Wir hängten Bob zwischen die Bischöfe und Diplomaten und Politiker, die das Land in dem wir lebten geprägt hatten. Sein schmuddeliges, bäurisches Gesicht passte genau zu
einem Foto des früheren Präsidenten Earmon de Valera, eine bizarre billige Symbolik, die Vierzehnjährige einfach grossartig finden. Es fühlte sich an wie eine Art Sieg und
ehrlich gesagt ist das noch immer so. Ich hörte die ganze Zeit die Boomtown Rats, stundenlang hörte ich diese Musik und versank in einen angenehmen Trancezustand "I don't like
mondays", "Diamond Smiles", ich konnte die Texte auswendig. Immer und immer wieder wiederholte ich sie in meinem Kopf. Oft bin ich abends mit den Worten "I don't like mondays" im Sinn
eingeschlafen und wenn ich am Morgen aufwachte, murmelte ich sie immer noch wie ein leises Gebet vor mich hin.
Im Dezember 1979 kamen die Boomtown Rats nach Irland zurück. Sie sollten ein grosses Konzert geben, aber im letzten Moment wurde ihnen von den Behörden die Erlaubnis verwehrt. Die
Boomtown Rats galten in Irland als gefährlich, so wie es das mörderische Unschuldsgehabe dieser Zeit wahrscheinlich auch war. Die Band verklagte die Behörden, verlor jedoch den
Prozess. Diese Weihnachten standen auch meine Eltern wieder vor Gericht, ich ging hin, aber der Richter schickte mich weg. Als ich aus dem Gerichtssaal kam und die riesige Rotunde des Four Courts
Gebäudes in Dublin betrat, war ich niedergeschlagen. Aber dann passierte etwas Merkwürdiges. Fachtna O'Ceallaigh, der junge Manager der Boomtown Rats stand mit seinen Anwälten am
anderen Ende der Halle. Er stand einfach so da, mit seinen Händen in den Hosentaschen und sah verdammt cool aus. Vielleicht hatte er eine Sonnenbrille an, aber ich bin mir nicht sicher. Auf
jeden Fall war er einer der wenigen anwesenden Leute, die keine Perücke trugen. Ich war froh ihn zu sehen, ich betrachtete es als gutes Vorzeichen und es erinnerte mich an Bob. Weihnachten war
schrecklich in diesem Jahr. Wirklich furchtbar. Die Atmosphäre im Haus war von Angst durchtränkt. Gleich am Anfang des neuen Jahres brachten die Rats die Single "Banana Republic"
heraus - vielleicht sollte man besser sagen, sie liessen sie auf die Menschheit los - die geschickt ihre Sicht von Irland zusammenfasste. Mittlerweile standen diese Gefühle mit meinen im
Einklang.
Banana Republic, septic isle
Suffer in the screaming sea
It sounds like dying, dying, dying
Everywhere I go now
And everywhere I see
The black and blue uniforms
Police and priests
Es war eine wüste Attacke auf eine Gesellschaft, deren Errungenschaften, wenn es darum ging frömmelnde und scheinheilige Posen einzunehmen, grösser waren, als ihre
tatsächlichen moralischen Verdienste. Es hatte eine moralische Schärfe, die zu dieser Zeit mehr als angebracht war. Niemand ausser Geldof hätte dazu den Mut gehabt. Ich weiss
nicht wie die anderen dies damals empfanden, aber es ist mir auch egal, ich bewundere ihn noch immer dafür.
Aber es sollte die letzte Single der Boomtown Rats sein. Kurz nach dem Erscheinen von "Banana Republic"' begannen sich die Dinge zu verschlechtern. Es gab Gerüchte, dass die Band mit
Drogen zu tun hätte. Ich weiss nicht, ob das stimmte oder nicht. Wie auch immer, die Rats kamen irgendwie vom Weg ab, als sich der Geschmack des Platten kaufenden Publikums allmählich
veränderte. Wenn ich mir die Singles ins Gedächtnis rufe, sehe ich mich selbst in diesen Tagen und erinnere mich was ich getan habe. "Elephant's graveyard" kam im Januar 1981 raus, dem
Monat als meine Eltern ihre letzte Verhandlung vor Gericht hatten. "House on fire" war im August 1981, als meine Mutter ins Krankenhaus musste. Für ein paar Tage waren wir alleine zu Hause
und meine Geschwister und ich gebärdeten uns ziemlich wild. Wir blieben bis zum Morgengrauen auf und schrieben über das Tor der Garage die Worte FUCK THE POPE und BOOMTOWN RATS. Wir waren
trunken von Freiheit. Wir haben das Haus verwüstet und hörten die ganze Zeit die Rats sehr laut. Es ist die berauschende Leichtigkeit aus Angst und Freiheit an die ich mich erinnere, das
Wummern des Basses, das sich über den Holzboden übertrug und das nasale Dröhnen von Geldofs Stimme. Es ist schon merkwürdig, was einen tröstet, wenn man Sorgen hat. Eines
Sonntagnachmittags, nicht lange nachdem meine Mutter zurück war, liefen meine beiden Schwestern weg und blieben fortan bei unserem Vater, wo sie mit Liebe, Zuneigung und Respekt behandelt
wurden, wie sie es verdienten. Sie kamen niemals nach Glenageary zurück.
"Never in a million years" erschien im November 1981, kurz nachdem ich aufs College gekommen war. In diesem Monat wurde es auch für mich zuviel zu Hause und ich zog auch aus. Als ich
eines Tages meinen Bruder traf, der immer noch bei unserer Mutter lebte, brachte er eine überspielte Aufnahme von "Tonic for the troops" mit, die ich an dem Tag an dem ich endgültig
weglief im Haus zurückgelassen hatte. Das zerriss mich innerlich, ich weiss nicht warum. "House on fire" kam im Februar 1982 heraus, zu dieser Zeit hatte ich eine Freundin, die Grace
Porter hiess. "Charmed Lives" folgte im Juni des gleichen Jahres, kurz nachdem wir uns getrennt hatten. "Nothing happened today" kam kurz nachdem ich die Prüfungen nach dem
ersten Jahr auf dem College abgelegt hatte, heraus. Fast alles, was mir in jener Zeit widerfuhr kann ich durch einen Song von den Boomtown Rats zeitlich markieren.
Die Single "Drag me down" kam im Mai 1984 heraus. Ich erinnere mich daran, weil ich sie an einem kalten Nachmittag in Duc Laoghaire gekauft hatte, bevor ich den Bus nahm, um meine Mutter zu
besuchen. Wir hatten einen fürchterlichen Streit und trennten uns im Unguten. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Sie starb neun Monate später bei einem Autounfall. Ich floh nach
Nicaragua, um alleine zu sein und nahm eine Kassette mit dem letzten Album der Rats ‚In the long grass' mit, auf dem sich auch die wunderbare Single aus diesem Jahr befand "Dave"
Flirt with death
But never kiss her
I see you bleed
I know you feel the squeeze
But please, believe
The view from on your knees
Deceives
Keep going
Ausserdem nahm ich eine Kassette ihrer allerletzten Single "A hold of me" mit. Irgendwie wollte ich alles von Zuhause vergessen, aber zugleich wollte ich mich auch an jede Einzelheit
erinnern.
Ich habe oft über die alten Zeiten nachgedacht und manchmal kamen mir die Boomtown Rats in den Sinn. Live Aid wurde in diesem Frühsommer ins Leben gerufen und Geldof war vielleicht der
berühmteste Mann der Welt. Aber die Band hatte schon lange keine Platte mehr gemacht und sie schienen dies auch nicht vorzuhaben. Und dann kamen sie im Mai 1986 zurück nach Dublin, trotz
der Gerüchte, dass sie es gänzlich hinschmeissen wollten, um bei einem Wohltätigkeitskonzert mit Van Morrison, U2 und den Pogues, also mit all den grossen Bands der irischen
Rockszene, aufzutreten. Die Rats spielten einen Reisser. Sie spielten im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend und erhielten einen rasenden Applaus. Nach dem Hauptteil des Konzerts schlenderte
Geldof zum Mikro für eine Zugabe. Er schien angesichts der herzlichen Zugewandtheit des Publikums überrascht und wusste zunächst nicht was er sagen sollte. Er wirkte fast etwas
verloren als sein Blick über die Menschenmenge wanderte. "Es waren zehn grossartige Jahre" murmelte er dann "lebt alle wohl". Das Schlagzeug setzte donnernd ein. Das Eröffnungsriff
liess alle erzittern. Die vertrauten Akkorde D, A, G, E . Der letzte Song der Boomtown Rats, den sie je in der Öffentlichkeit spielen sollten war ihr erster Song. Geldofs Hymne auf
rotznasige Anarchie und Jugendlichkeit "Looking after number one"
Don't give me love thy neighbour
Don't give me charity
Don't give me peace and love from your good lord above
I'M GONNA BE LIKE ME!
Es war eine starke Heimkehr, zugleich ein stilvoller Akt der Selbstkritik und ein bitterer Abschied. Und auf merkwürdige, aber tiefsinnige Weise schien es auch ein Abschied für mich zu
sein, von einer Zeit in meinem Leben, die nun vorbei war. Als ich das Konzert an diesem Tag im Fernsehen verfolgte, wusste ich, dass ich Irland bald wieder verlassen würde und für lange
Zeit nicht wieder kommen würde und dass ich versuchen würde, weiterzumachen. Nach und nach verlor ich den Kontakt zu meinen Schulfreunden. In London zog ich fünf oder sechs Mal um und
irgendwann liess ich alle meine alten Boomtown Rats Platten zurück. Aber ich erinnere mich noch gut an ihre Kraft und ihren Einfluss, die heilende Wirkung ihrer berechtigten
Entrüstung. Vermutlich sind die Worte nicht mehr ganz so elektrisierend wie damals an einem Sommertag in Dalymount Park, als ich dreizehn Jahre alt und atemlos angesichts dieser Offenbarung war.
Aber das ist mir egal. Denn gute Popmusik heilt uns manchmal auf eine Art und Weise, die wir nicht verstehen oder die unglaublich abgedroschen oder trivial erscheint, wenn wir zurückschauen.
Gute Popmusik handelt von Menschen, die sie hören und den Umständen in denen sie das tun und letztlich nicht von den Leuten, die sie machen. Vielleicht ist es das, was so toll daran ist.
Ich weiss nicht.
 Im letzten Jahr trat ich in einer irischen Fernsehsendung auf, um über einen meiner Romane zu sprechen und Bob Geldof war einer der Gäste. Er war wirklich
grossartig. Er hatte die Ausstrahlung eines Überlebenden. Er wirkte wie ein Mann, der es durchgestanden hatte. Nach der Show plauderten wir eine Weile in der Garderobe über dies und
das, seine Augen wanderten rastlos durch den Raum und er fuhr sich mit den Händen durch seine widerspenstigen Haare während er redete. Als es Zeit war, zu gehen schüttelten wir uns die
Hände und er nahm seine Sachen und schlenderte mit dem verbeulten Gitarrenkasten unter dem Arm aus dem Raum. Es war, als wäre ein Stück meiner Vergangenheit mit ihm durch die Tür
gegangen. Ich hatte niemals Gelegenheit, ihm zu erzählen, was mir in jener Nacht durch den Kopf ging. Es waren zu viele Leute dort und ich hätte wahrscheinlich sowieso nicht die richtigen
Worte gefunden. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, war das was ich sagen wollte eigentlich relativ einfach. Und damit meine ich: Als ich ein verängstigter Junge war, der wenig Sinn in
seinem Leben sah, waren es die Musik und das Beispiel Geldofs, die mich gleich an zweiter Stelle nach der Liebe, die mir von meinem Vater, meiner Stiefmutter, meinem Bruder und meinen Schwestern
zuteil wurde, die mir geholfen haben, das ganze Elend und den Schrecken zu überstehen. Sie halfen mir zu überleben und die dunklen Tage durchzustehen und auf bessere zu warten. Und die
kamen auch, das ist oft so. Aber bevor die Zeiten besser wurden, hatte ich Bob. Seiner Musik wohnte eine Weltsicht inne, mit der ich mich verbunden fühlte. Sie öffnete mir die Augen
für Dinge, die ich zuvor nicht erfahren hatte. Wie richtig gute Popmusik machte sie Spass, sie war unberechenbar, lebendig, ikonoklastisch, intelligent, geistreich, tanzbar und sanft wenn
sie wollte und hart wie Stahl, wenn sie musste. Ich fühlte mich durch sie besser, sie war Balsam für meine Seele. Und sie half mir daran zu glauben, dass ich es schaffen konnte. Wenn er es
auch konnte. Ein törichter und jugendlicher Glaube, wenn ich denn jemals einen hatte. Aber in einer Welt, in der ich allzu schnell erwachsen werden musste, waren es zumindest Bob Geldof und
seine Band, die es mir erlaubten ab und an töricht und jugendlich zu sein. Ich bin wirklich sehr dankbar für dies Wenige und doch so viel. Ich bin dafür sehr dankbar.
(Dieser Text erschien im englischen Original 1994 in dem Buch "Idle Worship: How Pop Empowers the Weak, Rewards the Faithful and Succours to the Needy". Das Buch beschäftigt sich mit der
emotionsgeladenen Fan/Künstler Beziehung. Unter anderem beschreiben hier Bono oder Kristin Hersh Erlebnisse als Fan. Das Buch ist schwer zu bekommen. Vielleicht gebraucht über Amazon.com.
Jetzt dient er als Pressetext für das erste Best-Of der Boomtown Rats.)

Text: Joseph O'Connor
Bilder: Pressefreigaben
Mehr zur The Boomtown Rats unter www.theboomtownrats.com
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aktuelle CD "Best Of" (Eagle Records) gibt es nicht nur im Internet oder in den einschlägigen Medienmärkten, sondern auch beim Plattenhändler eures Vertrauens.
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