REPORTAGEN
Die Schlampen sind müde
Introducing 2003 in Berlin [ September 2003 ]
Tomte

Thees Uhlmann steht auf der Bühne der Berliner Columbiahalle und erzählt von einem grossen Festival, auf dem er mit seiner Band Tomte vor wenigen Tagen aufgetreten war. Er duckt sich ein wenig unter seinen Armen durch und deutet ein Klatschen über seinem blonden Scheitel an. Das sei bei solchen Festivals wie ein Reflex beim Publikum, meint Thees. Sobald irgendeine Band so zum Mitklatschen auffordere, würden die Handflächen rhythmisch zueinandergeführt. In Independentmusikkreisen sind solche Gesten, wie auch das Hin- und Herschwenken brennender Feuerzeuge, eher verpönt. "Wir wissen wo wir gelernt haben uns zu bewegen", skandiert Thees in der Art eines Arbeiterführers in die Menge und fügt noch an: "Ich fühl´ mich wohl in unserer kleinen Indieszene." Das Publikum ist auf seiner Seite, bewegt sich zum nächsten Lied ausgelassen mit. Aber hätte Thees seine Klatschgeste unkommentiert gelassen, was wäre wohl passiert...

Nach Tomte verstreuen sich die Besucher des Introducing 2003 in Richtung der drei Theken. Beliebt ist die im neuen Biergartenteil, direkt an der Halle. Die meisten Besucher sind nicht mehr ganz zwanzig und freuen sich über Stühle und Tische. Die meisten stehen jedoch, schon aus Stuhlmangel, in kleinen Grüppchen zusammen und diskutieren das schon Gesehene. Und natürlich was von Blumfeld zu erwarten sein wird. Das neue Album ist noch nicht draussen, die Intro beschwert sich, dass man einen Plattenspieler zum Rezensieren braucht, und irgendwie hat jeder schon gelesen, dass sie nicht so gut wäre. "Aber die Single ist doch gar nicht so schlecht", meint einer der vielen dunkel gekleideten Männer. Schulterzucken. Blumfeld sind quasi die Headliner dieses, erstmals in Berlin veranstalteten, Festivals. Wie die meisten Bands sind sie zwar bei einer grossen Plattenfirma und damit im eigentlichen Sinne nicht mehr independent, aber ihr Sound und ihre Haltung bleiben eigenständig. Sie sind trotz des Majordeals independent. So wie auch das Publikum versucht, in den Aussenbezirken der Jugend, deren selbstverständliche Freiheit zu behalten und independent zu bleiben. Die Kultur ist keine Modeerscheinung, begleitet das Publikum durch die Jahre. So hängt auch Radio Eins Moderator Volker Wieprecht in einem Stuhl ab. Und dessen Sender ist ja bekanntlich nur für Erwachsene.

KanteAls Kante die Bühne betreten, strömen wieder alle vor die Bühne. Die Hamburger Band steht beim Berliner Indielabel Kitty-Yo unter Vertrag und ist damit die letzte Band des Abends, die independent, im Sinne von nicht bei einer grossen Firma sein, ist. Es geht bei diesem Begriff heute auch nicht mehr um die vertragsrechtliche Heimat. So wie Rock n Roll auch mehr als nur "One o´clock, two o´clock..." ist. Und Kante verkörpern diese Stilrichtung sehr gut. Ihre Musik verschliesst sich den eingängigen Hörgewohnheiten und wirkt trotzdem sehr harmonisch. Ihr Vortrag wirkt getragen, aber nie emotionslos. Sie versuchen sich als Understatement-Künstler und werfen nebenbei eine weitere Stilfrage auf: Darf man auf einer Rockbühne Sandalen tragen? Sänger Peter Thiessen tut es.

Wenige Minuten später gibt es Zoot Woman. Die wurden durch die Gabe berühmt, in Zeiten des 80ies Revival Hits im Stil der Achtziger schreiben zu können. Das Ganze mit New Wave Anzügen und Videos unterstrichen, in denen jederzeit Andrew Ridgeley hätte auftauchen können. Am heutigen Abend tragen sie, ganz gegen die Erwartung, Holzfällerhemden. Das sieht ein wenig altbacken aus, aber in den Achtzigern uniformierte man sicher auch noch abstruser (z.B. die Band Haircut 100, mit Regenmänteln. Remember? Anyone...) Sie setzen da an wo die Hits der Achtziger sich an Zeitlosigkeit versuchten. Beim ersten Lied kommt dann doch tatsächlich die Mitklatschnummer. Zumindest der Versuch. Engländer sehen independent´sche Bewegungsabläufe anscheinend nicht so eng. Wer weiss, vielleicht fühlen sie sich auch gar nicht allzu independent. Schliesslich sind auch sie bei einem Major und hatten einen europaweiten Top Ten Hit mit "Living In A Magazine". Als dieser Knaller schliesslich kommt, haben sie das Publikum ein wenig der Szene entrissen. Plötzlich treffen sich Handflächen da wo sie nicht sollen, erst etwas verlegen, doch sehr selig, eigentlich. Was Spass macht ist erlaubt.


Zuschauer

Thees Uhlmann wippt währenddessen mit seinem Fuss zu Zoot Woman. Sein Blick ahnt jedoch Unheilvolles als er den Klang der klatschenden Hände wahrnimmt. Er schnappt sich seinen Gitarrenkoffer, wirft ihn in den Kleintransporter und betrinkt sich mit einem Fan in einer Kneipe in der benachbarten Bergmannstrasse. Am nächsten Tag würde er ein Lied mit dem Titel "Sie haben uns den Independent genommen" schreiben. Nein! Gelogen! Oder vielmehr nur angenommen, denn Thees kam mir nicht mehr unter die Augen. Auf jeden Fall wackelte die wohlige Indieszene für ein paar Momente. Es sollte sich nicht wiederholen.

Ein Mädchen im Publikum macht sich Gedanken, ob ein Praktikum bei "Fast Forward" nicht eine coole Sache wäre. Aber nochmal für ein Praktigehalt arbeiten? "Fast Forward" ist die Sendung für alternative Musik auf VIVA. Ein Überbleibsel des Alternativsenders VIVA2, den wohl jeder hier gesehen hat. Der Sender ging an den zu geringen Absätzen der Indiekünstler zugrunde. Mit dieser Musik lässt sich hierzulande selten die grosse Mark verdienen. In England ist Chartsmusik kulturell nicht in Sparten eingeteilt. Da stehen Teeniebands jederzeit neben ernstzunehmenden Künstlern in den Top Ten. Eine Sendung wie "Top Of The Pops" wird dort von jedermann gesehen und nicht nur von einem RTL Nachmittagspublikum. Insofern unterscheiden Zoot Woman wahrscheinlich auch Livegesten nicht und sehen die Sache etwas selbstverständlicher.

Chill OutNach vier Bands (die dänischen Opener Kashmir blieben bis jetzt unerwähnt) wird die Menge langsam stehfaul. Hier wirde der Nachteil eines Hallen- gegenüber einem Freiluftfestival deutlich. Der Ausruhfaktor wird kleiner. Jetzt wird jede Sitz- und Anlehnmöglichkeit genutzt. Nach über vier Stunden fallen die ersten Köpfe erschöpft zwischen die Knie. Ein Mädchen sagt, dass das von der vielen Arbeit am Computer käme. Man sitzt nur noch und verliert an Kondition. Sie könnte recht haben. Aber alle sieben Bands sind sehr interessant. Man kennt vielleicht nicht jede, hat aber schon Positives über sie gehört. Und so will man nicht wirklich eine davon verpassen. Die Leute der Intro haben da schon ein Händchen für ein exquisites Line-up. Doch die Kondition lässt nach.

Bright EyesGenau an der richtigen Stelle sind Bright Eyes aus Omaha wie ein Wake Up Call. Sänger Conor Oberst wirkt hyperaktiv, wippt bei jedem seiner ekstatisch vorgetragenen Worte auf und ab. Da ist etwas in ihm, das sichtlich raus muss. Eine Energie, die sich eruptisch Ausgänge reisst und entweicht. Der Vortrag wirkt an manchen Stellen sehr spontan. Oberst geht zum Drummer, bespricht sich kurz mit ihm und geht wieder ans Mikro, legt los. Der Rest der Band hört erstmal zu. Es hat den Anschein als hörten auch sie dieses Lied zum ersten Mal. Langsam greifen ihre Hände die Instrumente wieder etwas fester und betupfen das Lied mit Farbe. Ein wenig Slideguitar hier, eine Basslinie dort, aber ein Arrangement wird es nicht. Solche Augenblicke sind es, die Livemusik spannend machen, die Sinuskurve des Hörens aus dem Gleichgewicht bringen.

NeonInzwischen gleicht die Columbiahalle an manchen Stellen einem Lazarett. Unter Neonleuchten lehnen eine ganze Reihe verschwitzter Gestalten, die ein klasse New Wave LP Cover abgeben würden. Einer der Jungs schaut ungeduldig auf die Uhr. Er ist noch wirklich jung, aber anscheinend nicht so belastungsfähig. Mädchen, die vor wenigen Jahren noch mit T-Shirts herumliefen, die bissig "Schlampe" oder "Zicke" riefen, hocken bewegungslos an den Treppen und Wänden. Die Schlampen sind müde. Einige haben sich auch schon aus dem Staub gemacht. Es ist kurz vor eins und ein Shuttle Bus verbindet die Halle mit dem Maria in Mitte, wo bereits der Elektro Teil des Festivals begonnen hat. Die Menge ist etwas luftiger als Blumfeld "Ghettowelt" anstimmen. Trotzdem sieht es etwas übertrieben aus wie Kantes Peter Thiessen da in zehnter Reihe links steht. Er trägt einen Schal zu Kapuzenpulli und (man erinnere sich) Sandalen. Na ja, was man darf und was nicht, wankt heute Abend eh. Thiessen lauscht etwas stoisch. Er weiss, dass er von allen Seiten beobachtet wird. Und natürlich hat er recht. Schliesslich war er zum letzten Album noch Bassist von Blumfeld, stieg vor kurzem aus. Erst eine prägnante Basslinie erlöst ihn aus der unkomfortablen Haltung. Sein Nebensteher fragt, ob Michael Mühlhaus, der jetzt den Bass spielt, das gut gemacht hätte. Thiessen spendet Applaus, zieht sich den Schal vom Hals und nickt.

Blumfeld
Jochen Distelmeyer von Blumfeld

Vor der Halle, im üblichen Flyermeer, stopfen sich die meisten in ihre Strickjacken. Reges Treiben am Shuttle Bus. Drinnen zieht sich die Umbaupause. Mogwai stehen noch an. Ein bischen frische Luft und dann wieder rein. Die Wandhocker sind verschwunden, die Menge mit diesem Begriff überbewertet. Ein Mädchen verabschiedet sich von ihrem Freund. Das Festival sei sehr interessant gewesen, sie aber nun viel zu müde. Als die Hintergrundsmusik nochmal hochgezogen wird und der Soundcheck so richtig ins Detail geht, sage auch ich good bye. Man sitzt ja schliesslich ansonsten nur vor dem Computer...



Text: Christian Biadacz

Bilder: Christian Biadacz

Mehr zur Intro, bzw. die Onlineversion unter: www.intro.de


[ zurück zur Seite 1 ]
[ zurück zum Reportagenindex ]