Nach Tomte verstreuen sich die Besucher des Introducing 2003 in Richtung der drei Theken. Beliebt ist die im neuen Biergartenteil, direkt an der Halle. Die meisten Besucher sind nicht mehr ganz
zwanzig und freuen sich über Stühle und Tische. Die meisten stehen jedoch, schon aus Stuhlmangel, in kleinen Grüppchen zusammen und diskutieren das schon Gesehene. Und natürlich
was von Blumfeld zu erwarten sein wird. Das neue Album ist noch nicht draussen, die Intro beschwert sich, dass man einen Plattenspieler zum Rezensieren braucht, und irgendwie hat jeder schon gelesen,
dass sie nicht so gut wäre. "Aber die Single ist doch gar nicht so schlecht", meint einer der vielen dunkel gekleideten Männer. Schulterzucken. Blumfeld sind quasi die Headliner dieses,
erstmals in Berlin veranstalteten, Festivals. Wie die meisten Bands sind sie zwar bei einer grossen Plattenfirma und damit im eigentlichen Sinne nicht mehr independent, aber ihr Sound und ihre
Haltung bleiben eigenständig. Sie sind trotz des Majordeals independent. So wie auch das Publikum versucht, in den Aussenbezirken der Jugend, deren selbstverständliche Freiheit zu behalten
und independent zu bleiben. Die Kultur ist keine Modeerscheinung, begleitet das Publikum durch die Jahre. So hängt auch Radio Eins Moderator Volker Wieprecht in einem Stuhl ab. Und dessen Sender
ist ja bekanntlich nur für Erwachsene.
 Als Kante die Bühne betreten, strömen wieder alle vor die Bühne. Die Hamburger Band steht beim Berliner Indielabel Kitty-Yo unter Vertrag und ist damit die letzte Band des Abends, die
independent, im Sinne von nicht bei einer grossen Firma sein, ist. Es geht bei diesem Begriff heute auch nicht mehr um die vertragsrechtliche Heimat. So wie Rock n Roll auch mehr als nur "One
o´clock, two o´clock..." ist. Und Kante verkörpern diese Stilrichtung sehr gut. Ihre Musik verschliesst sich den eingängigen Hörgewohnheiten und wirkt trotzdem sehr
harmonisch. Ihr Vortrag wirkt getragen, aber nie emotionslos. Sie versuchen sich als Understatement-Künstler und werfen nebenbei eine weitere Stilfrage auf: Darf man auf einer Rockbühne
Sandalen tragen? Sänger Peter Thiessen tut es.
Wenige Minuten später gibt es Zoot Woman. Die wurden durch die Gabe berühmt, in Zeiten des 80ies Revival Hits im Stil der Achtziger schreiben zu können. Das Ganze mit New Wave
Anzügen und Videos unterstrichen, in denen jederzeit Andrew Ridgeley hätte auftauchen können. Am heutigen Abend tragen sie, ganz gegen die Erwartung, Holzfällerhemden. Das sieht
ein wenig altbacken aus, aber in den Achtzigern uniformierte man sicher auch noch abstruser (z.B. die Band Haircut 100, mit Regenmänteln. Remember? Anyone...) Sie setzen da an wo die Hits der
Achtziger sich an Zeitlosigkeit versuchten. Beim ersten Lied kommt dann doch tatsächlich die Mitklatschnummer. Zumindest der Versuch. Engländer sehen independent´sche
Bewegungsabläufe anscheinend nicht so eng. Wer weiss, vielleicht fühlen sie sich auch gar nicht allzu independent. Schliesslich sind auch sie bei einem Major und hatten einen europaweiten
Top Ten Hit mit "Living In A Magazine". Als dieser Knaller schliesslich kommt, haben sie das Publikum ein wenig der Szene entrissen. Plötzlich treffen sich Handflächen da wo sie nicht
sollen, erst etwas verlegen, doch sehr selig, eigentlich. Was Spass macht ist erlaubt.
Thees Uhlmann wippt währenddessen mit seinem Fuss zu Zoot Woman. Sein Blick ahnt jedoch Unheilvolles als er den Klang der klatschenden Hände wahrnimmt. Er schnappt sich seinen
Gitarrenkoffer, wirft ihn in den Kleintransporter und betrinkt sich mit einem Fan in einer Kneipe in der benachbarten Bergmannstrasse. Am nächsten Tag würde er ein Lied mit dem Titel "Sie
haben uns den Independent genommen" schreiben. Nein! Gelogen! Oder vielmehr nur angenommen, denn Thees kam mir nicht mehr unter die Augen. Auf jeden Fall wackelte die wohlige Indieszene für ein
paar Momente. Es sollte sich nicht wiederholen.
Ein Mädchen im Publikum macht sich Gedanken, ob ein Praktikum bei "Fast Forward" nicht eine coole Sache wäre. Aber nochmal für ein Praktigehalt arbeiten? "Fast Forward" ist die Sendung
für alternative Musik auf VIVA. Ein Überbleibsel des Alternativsenders VIVA2, den wohl jeder hier gesehen hat. Der Sender ging an den zu geringen Absätzen der Indiekünstler
zugrunde. Mit dieser Musik lässt sich hierzulande selten die grosse Mark verdienen. In England ist Chartsmusik kulturell nicht in Sparten eingeteilt. Da stehen Teeniebands jederzeit neben
ernstzunehmenden Künstlern in den Top Ten. Eine Sendung wie "Top Of The Pops" wird dort von jedermann gesehen und nicht nur von einem RTL Nachmittagspublikum. Insofern unterscheiden Zoot Woman
wahrscheinlich auch Livegesten nicht und sehen die Sache etwas selbstverständlicher.
 Nach vier Bands (die dänischen Opener Kashmir blieben bis jetzt unerwähnt) wird die Menge langsam stehfaul. Hier wirde der Nachteil eines Hallen- gegenüber einem Freiluftfestival
deutlich. Der Ausruhfaktor wird kleiner. Jetzt wird jede Sitz- und Anlehnmöglichkeit genutzt. Nach über vier Stunden fallen die ersten Köpfe erschöpft zwischen die Knie. Ein
Mädchen sagt, dass das von der vielen Arbeit am Computer käme. Man sitzt nur noch und verliert an Kondition. Sie könnte recht haben. Aber alle sieben Bands sind sehr interessant. Man
kennt vielleicht nicht jede, hat aber schon Positives über sie gehört. Und so will man nicht wirklich eine davon verpassen. Die Leute der Intro haben da schon ein Händchen für ein
exquisites Line-up. Doch die Kondition lässt nach.
 Genau an der richtigen Stelle sind Bright Eyes aus Omaha wie ein Wake Up Call. Sänger Conor Oberst wirkt hyperaktiv, wippt bei jedem seiner ekstatisch vorgetragenen Worte auf und ab. Da ist
etwas in ihm, das sichtlich raus muss. Eine Energie, die sich eruptisch Ausgänge reisst und entweicht. Der Vortrag wirkt an manchen Stellen sehr spontan. Oberst geht zum Drummer, bespricht sich
kurz mit ihm und geht wieder ans Mikro, legt los. Der Rest der Band hört erstmal zu. Es hat den Anschein als hörten auch sie dieses Lied zum ersten Mal. Langsam greifen ihre Hände die
Instrumente wieder etwas fester und betupfen das Lied mit Farbe. Ein wenig Slideguitar hier, eine Basslinie dort, aber ein Arrangement wird es nicht. Solche Augenblicke sind es, die Livemusik
spannend machen, die Sinuskurve des Hörens aus dem Gleichgewicht bringen.
 Inzwischen gleicht die Columbiahalle an manchen Stellen einem Lazarett. Unter Neonleuchten lehnen eine ganze Reihe verschwitzter Gestalten, die ein klasse New Wave LP Cover abgeben würden. Einer
der Jungs schaut ungeduldig auf die Uhr. Er ist noch wirklich jung, aber anscheinend nicht so belastungsfähig. Mädchen, die vor wenigen Jahren noch mit T-Shirts herumliefen, die bissig
"Schlampe" oder "Zicke" riefen, hocken bewegungslos an den Treppen und Wänden. Die Schlampen sind müde. Einige haben sich auch schon aus dem Staub gemacht. Es ist kurz vor eins und ein
Shuttle Bus verbindet die Halle mit dem Maria in Mitte, wo bereits der Elektro Teil des Festivals begonnen hat. Die Menge ist etwas luftiger als Blumfeld "Ghettowelt" anstimmen. Trotzdem sieht es
etwas übertrieben aus wie Kantes Peter Thiessen da in zehnter Reihe links steht. Er trägt einen Schal zu Kapuzenpulli und (man erinnere sich) Sandalen. Na ja, was man darf und was nicht,
wankt heute Abend eh. Thiessen lauscht etwas stoisch. Er weiss, dass er von allen Seiten beobachtet wird. Und natürlich hat er recht. Schliesslich war er zum letzten Album noch Bassist von
Blumfeld, stieg vor kurzem aus. Erst eine prägnante Basslinie erlöst ihn aus der unkomfortablen Haltung. Sein Nebensteher fragt, ob Michael Mühlhaus, der jetzt den Bass spielt, das gut
gemacht hätte. Thiessen spendet Applaus, zieht sich den Schal vom Hals und nickt.

Jochen Distelmeyer von Blumfeld
Vor der Halle, im üblichen Flyermeer, stopfen sich die meisten in ihre Strickjacken. Reges Treiben am Shuttle Bus. Drinnen zieht sich die Umbaupause. Mogwai stehen noch an. Ein bischen frische
Luft und dann wieder rein. Die Wandhocker sind verschwunden, die Menge mit diesem Begriff überbewertet. Ein Mädchen verabschiedet sich von ihrem Freund. Das Festival sei sehr interessant
gewesen, sie aber nun viel zu müde. Als die Hintergrundsmusik nochmal hochgezogen wird und der Soundcheck so richtig ins Detail geht, sage auch ich good bye. Man sitzt ja schliesslich ansonsten
nur vor dem Computer...

Text: Christian Biadacz
Bilder: Christian Biadacz
Mehr zur Intro, bzw. die Onlineversion unter: www.intro.de
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