![Jan Müller](../Pics/Artikel/tocotronic_jan94b.jpg) "Musikalisch fand ich das saugut", erinnert sich Mahler heute, "war mir zwar immer am Anfang zu Dinosaur Jr. mässig, aber das war auch egal oder sekundär, denn worauf es ankam, war ja der
Spirit, dieses Rotzige. Und die Texte, die waren ja super, sehr geistvoll. Der Geist der Band war auch so: total junge Typen machen eine sophisticated punk band." Und dieser Spirit, von dem Mahler da
redet, gab sich 1995 als Zeitgeist zu erkennen. "Ich möchteTeil einer Jugendbewegung sein" vereinte eine ganze Generation von Einzelkindern, die mit Jugendzentren und ihren birkenbestockten
Sozialarbeitern nichts anzufangen wussten. Der Rest erhob die Langeweile zur Tugend und benannte sich nach einem Auto. Aber das waren auch die Typen mit den bunten Uhren. Die Slacker (PONS
übersetzt uns das, schön ulkig, mit Bummelant) hatten den Grunge für sich gefunden, aber nichts das ihnen einen Bezugspunkt zu ihrer eigenen unmittelbaren Umgebung gab. Ein "Teen
Spirit" Parfüm (das einen grossen Grunge-Hit inspirierte) gab es in Deutschland eben nicht. Dafür aber Mädchen, die einen erst mal übersehen, Flohmärkte,
Verwandtenbesuche, Teppiche auf denen man Bier trinkt, die Straciatella oder Nuss Frage, und die Gewissheit "es ist gar nicht so leicht Musik zu machen." (aus "Hamburg rockt").
"Der ganze handwerkliche Aspekt ist schon echt hinderlich manchmal", sagt Jan Müller, der Bassist von Tocotronic, heute. "Wir waren halt alle drei irgendwie nicht die Musiker. Es ist schon
einerseits immer ´ne Qual, ne? Aber, um dieses widerliche Wort zu bemühen, wir fanden das schon charmant, alle drei, glaube ich. Von Beginn an. Und deshalb war auch ziemlich schnell klar,
dass wir das weitermachen so." Tocotronic ging es in ihren Anfangstagen nicht um Vituosität, sondern um das Machen. Hilfreich bei diesem Sound war ein grosses Talent für Melodien, die sich
über den Schrammelrock legten. Das war auch die Stärke der amerikanischen Lo-Fi-Noise-Guitar-Pop-Bands Dinosaur Jr. oder den jungen Pavement. Jan nennt aber die Palace Brothers und Guided
by Voices als Einflüsse. Vorbilder wollen sie nicht gehabt haben. "Das Songwriting ist ausgeklügelt und exquisit"; beurteilt Stephan Mahler das aktuelle, selbstbetitelte Werk von
Tocotronic. Eine Stärke, die auch schon beim Debut auffiel. Es ist ja nicht so, dass "Digital ist besser" allein deswegen erfolgreich wurde, weil sich da drei Jungs an Schrammelgitarren
versuchten und einen Scheiss auf die Möglichkeiten moderner Studiotechnik gaben. Wenn ja, dann hätten in der Folge Bands, die den Tocotronic Duktus kopierten, auch längerfristig
beachtet werden müssen. Das prominenteste Beispiel war da wohl die Wiener Band Heinz, die mit "Ich hab mit Tocotronic Bier getrunken" sogar einen Plattenvertrag ergattern konnte. In der Folge
hielt sich die Öffentlichkeit jedoch ans Original.
"Als das erste Tocotronic Album rausgekommen ist; das hat uns doch alle geflasht," rief Thees Uhlmann, Sänger der Band Tomte, dem Publikum beim Independent Festival Introducing 2003 zu. Das ist
eigentlich ganz treffend beschrieben. Denn Tocotronic erreichten ihr Publikum auf einer ganz anderen Ebene als es (ok, das sind jetzt keine originellen Beispiele, aber so ist die Welt) Blumfeld oder
Die Sterne taten. Ihre Texte artikulierten den Alltag vieler Jungerwachsener, ihren Weltschmerz und das sich Zurechtfinden zwischen Spiessbürgertum und Freiheit direkter. Das Paradox einer
behüteten Rebellion. Die Kinder, die es mal besser haben sollten, hatten es tatsächlich besser. Aber, ganz undankbar, wollten sie das gar nicht, koketierten mit dem Begriff Verlierer
und zogen erst einmal Resümee, bummelten rum. Die Welt hatten andere schon verändert. "Es ist egal, aber" drückte das auf einer späteren Tocotronic Platte sehr gut aus. Oder
"Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört." Das Manifest einer Jugend, die sich diese weniger behütet gewünscht hätte. Nach aussen hin zumindest.
![Dirk von Lowtzow](../Pics/Artikel/tocotronic_dirk94b.jpg)
Aber zurück ins Jahr 1993: Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow zieht von Freiburg nach Hamburg um Jura zu studieren und trifft am ersten Orientierungstag auf Jan Müller, der mit Arne
Zank in einer Band mit dem erbaulichen Namen Punkarsch so vor sich herdümpelt. Da sich die drei gleich "super verstanden", wie Jan meint, nahmen sie Dirk kurzerhand in ihren neun Quadratmeter
grossen Proberaum im Bunker mit und lauschten seinen neuen Stücken. Es waren seine ersten in deutscher Sprache. Er wollte "das einfach mal probieren", erinnert sich Jan. "Die Idee ist gut, doch
die Welt noch nicht bereit" singt Dirk ihnen vor. Eine Hymne für alle Unverstandenen und die, die es werden wollten.
"Morgens um halb drei habe ich noch ein Lied gemacht, und ich rufe eine Freundin an, mitten in der Nacht, und ich sing es ihr durch´s Telefon und es sagt: Ich liebe Dich.
Kurz bevor ich auflege, schäme ich mich."
Das war damals nichts was man in Liedern hörte. Das war irgendwie nicht in Liedform gebracht. Der Tagebucheintrag wurde in der
Folge gerne zum Vergleich herangezogen. Es war anders, aber einprägsam, emotional unmittelbar. Ich musste diese Zeilen, acht Jahre später, nicht nachsehen.
Die Jungs nennen sich Tocotronic (wieder Verweigerung: weil sie nicht eindeutig als Gitarrenbands gelten wollten), nach einem Gameboy Vorläufer, den Tchibo Anfang der Achtziger rausbrachte und
sind wenig später mit einer 500er Auflage ihrer ersten Single unterwegs. "Meine Freundin und ihr Freund" legt die Band in Hamburger Plattenläden aus. "Die war ja nun echt scheisse
aufgenommen, auf gut deutsch gesagt", meint Jan, "sollte aber auch so sein... Es schien uns halt damals als cool, weil wir halt kein Demo machen wollten, so sollte man vielleicht anfangen, kein
eigenes Geld ausgeben für ein nicht so gutes Tonstudio. Da haben wir gesagt, machen wir es direkt. Das (Demo,d.A.) erschien uns einfach als spiessig. Wir waren halt, ich mein... wir hatten
damals wahrscheinlich auch wahnsinniges Selbstbewusstsein als junge Band. Die Leute sollen uns halt so nehmen wie wir sind. Das war halt so ´ne Verweigerung sich jetzt so wahnsinnig
anzustrengen, um irgendeiner Plattenfirma zu gefallen. Das war schon so unsere Idee." Mit zehn Exemplaren, deren Cover wilde Tocotronics zeigt, ein Nirvana Poster im Hintergrund, geht die Band zum
Spezialversand, dem Vertrieb der Plattenfirma L´Age D´Or. Dort wird Miriam Brüger, heute DJ Melanie, auf sie aufmerksam und gibt ihrem Chef Carol von Rautenkranz Bescheid. Der
lässt sich in der Folge beim nächsten Auftritt der Jungs in der Hamburger Kneipe Kir blicken.
![Arne Zank](../Pics/Artikel/tocotronic_arne94.jpg)
Tocotronic spielen einen Set, wie es das für krachige, junge Bands so üblich ist. Charme vor Erfahrung. Improvisation vor Können. Das kann man ganz gut auf der Jubilaeums DVD sehen, wo
es einen herrlich laienhaften Videomitschnitt aus dem Jahr 1994 zu bestaunen gibt. Für Rautenkranz war es "etwas ganz Neues, Eigenständiges, mit eigener, sehr starker Ausstrahlung." Er
steht fasziniert vor der Bühne, dreht sich zu seinem Partner Taucher um und sagt: "Wenn wir die Band nicht machen, weiss ich nicht, warum wir das Ganze die ganze Zeit überhaupt gemacht
haben." Etwa zwei Monate später sind sich die Parteien einig. Im italienischen Restaurant Da Benito unterhalten sie sich erstmalig über ein Album, das wenig später "Digital ist besser"
werden soll. Sie wollen die Flucht nach vorne wagen. Kein Schnickschnack, ganz live und schmutzig soll das Album werden. "Es hätte einfach keinen Spass gemacht, versuchen, das technisch
perfekter zu machen. Und da wäre auch viel dabei verlorengegangen, viel Energie und viel Message im Endeffekt auch", sagt Jan. "Das Konzept war, die Band zu zeigen. Hier steht die, und so klingt
die."
Im Studio macht eine alte Polaroid Kamera, die Jan mitbringt, die Idee des Festhaltens eines Moments perfekt. "Wir haben uns gedacht, was soll das jetzt, Fotoshooting und so, das soll schon so
unmittelbar sein und auch, na ja, auch merkwürdig aussehen", beschreibt Jan die unscharfen, fehlbelichteten Fotos, die junge Männer in Werbe-T-Shirts, Siebziger Jahre Trainingsjacken,
gepaart mit schiefen Haarschnitten zeigen. "Es war schon auch immer wichtig, dass das schräg rüberkommt alles", sagt Jan. "Es war halt nie unser Anliegen, so verstanden zu werden. Und das
hat uns dann auch sehr gewundert, bei der Rezeption der ersten Platte, was das für einen Erfolg hatte. Wir dachten eigentlich immer, das sind so unsere eigenen Codes." Waren sie vielleicht. Sie
wurden jedoch heissblütig aufgesogen. Ihr Dresscode ist immer noch der Berlin-Mitte Non-Chic und ist inzwischen auch bei Woolworth (Billig-Kaufhaus) zu haben.
Das Album erblickte im Februar 1995 das Licht der Welt und warf augenblicklich Schatten. "Schon bevor das Album raus war, war die Aufmerksamkeit da. Da gab´s dann einen Bericht in der Spex, und
in der Intro war, glaube ich, auch was drin", erzählt Jan. "Die ca. 23jährigen Musiker geben offenherzig zu, dass sie 'völlige Stümper' sind" schreibt Joachim Henn 1994 in
der Intro. Keine offensichtliche Werbung, aber dafür ein Sympathiebonus. So wird Manko Stärke. "Digital ist besser" trifft einen Nerv, verkauft sich sechsstellig, wird die Platte, die man
gehört haben muss und macht, ganz im Sinne des Punk, Mut selbst Musik zu machen. Es klingt scheinbar so einfach. Jan glaubt ihren Einfluss in der Musikwelt ausgemacht zu haben, fände das
jedoch viel zu vermessen ihn zu benennen: "Wenn das wirklich so ist, dass Leute deswegen zur Gitarre gegriffen haben, oder meinetwegen auch zum Drumcomputer, wie auch immer, dann find ich das halt
super so, dann freut mich das."
![Tocotronic 2003](../Pics/Artikel/tocotronic2003.jpg)
Tocotronic heute
Text: Christian Biadacz
Bilder: Pressefreigaben
Bildbearbeitung: Christian Biadacz
Mehr zu Tocotronic unter: www.www.tocotronic.de Fanpage Tocotronix.de
![Digital ist besser](../Pics/CDCover/tocotronic130.jpg) Die
CD/LP "Digital ist besser" (Lado) gibt es nicht nur im Internet oder in den einschlägigen Medienmärkten, sondern auch beim Plattenhändler eures Vertrauens.
Ebenso beim Label direkt: ZUM KATALOG
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